Freitag, 22. September 2017

KUNST kurz vor der Wahl

(c) Wolfgang Tillmans
Wolfgang Tillmanns ruft mit einer Plakatkampagne zum Urnengang auf, ich beschäftige mich mit der Frage, warum so viele Leute das Gefühl haben, dass es egal ist, wen oder welche Parte man wählt (abgesehen von der AfD, versteht sich) weil sich ohnehin nicht ändern wird, während es gleichzeitig immer mehr aktivistische Kunst gibt...

Wer den Wahlkampf verfolg hat, die Medienberichte und dazu noch, was die Parteien, die Herausforderer sich gegenseitig vorwerfen – „Wahlkampf im Schlafwagen“, als TV-Duell getarnte Werbung für Erneuerung der GroKo, Merkel bloß „Vergangenheitsverwalterin“, vom „Schulzzug“, „Gottkanzler“, „Sankt Martin“ nur noch „Charme eines Sparkassenangestellten“ über, die FDP ist die „Nutten-Partei, weil sie mit jedem ins Bett geht und dann umfällt“, die Grünen sind überflüssig, weil ihr Programm längst Allgemeingut ist – der wird das Gefühl nicht los, dass es egal ist, wen oder welche Partei man wählt, weil sich ohnehin nichts ändern wird.
Ganz anders in der Kunst: Scheint so, als erhalte jeder Künstler heute mit der Einladung, an einer Ausstellung teilzunehmen, automatisch auch den Auftrag, die Welt zu verändern. Kunst gegen Kapitalismus, Neoliberalismus, Rassismus, Kolonialismus, Genderisierung, gegen jedwede Form der Unterdrückung, Diskriminierung, Kunst für und mit Flüchtlingen und für die Umwelt.
Was alle drei jedoch gemeinsam haben, die politische Klasse, die Medien und die Kunst: Ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Schulz kündigt während des TV-Duells einen neuen harten Kurs gegen Ankara an, obwohl sich Merkel und Gabriel kurz zuvor noch auf Beschwichtigung geeinigt haben und der Streit um die Flüchtlingsobergrenze, der fast zum Bruch der Schwesterparteien CDU/CSU geführt hätte, war im Grunde nichts anderes als Wortklauberei – ob das ganze jetzt Obergrenze oder Kontingent genannt wird. Die etablierten Medien werden als „Lügenpresse“ oder  „Fake News“ verunglimpft. Ressentiments, die es längst nicht mehr nur in den USA gibt, sondern auch in Deutschland, zum Beispiel im Zusammenhang mit Berichten über die rechte oder die salafistische Szene.

Ich spare mir an dieser Stelle den sonst so beliebten Versuch, zu transkribieren wie „Lügenpresse! Auf die Fresse!“ mit sächsischem Dialekt klingt. Man stelle sich doch nur einmal einen wütenden Mob aus lauter Judy Lübkes vor.
Stattdessen will ich warnen. Warnen vor den gleichen Vorbehalten gegenüber der Kunst.
Die Verbindung zwischen Kunst und „Fake News“ ist gar nicht so an den Haaren herbeigezogen, wie sie klingt. Denn die Kritik an der Kunst auf Kunstgroßveranstaltungen wie der Documenta oder der Biennale, vielleicht auch an der zeitgenössischen Kunst allgemein, lautet übereinstimmend: Sie will viel, nur leider kommt davon nichts rüber. Die Pleite der diesjährigen Documenta darf also nicht vergessen machen, dass der eigentliche Flop die ausgestellte Kunst war. Was ich mit Glaubwürdigkeitsproblem meine, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von Michel Abdollahis riesigem Schaumstoffküchenschwamm, der ein Zeichen gegen Rassismus sein soll und den er in Hamburg und in Augsburg ausgestellt hat. In Hamburg wurde er angezündet und in Augsburg in Windeseile von spielenden Kindern zerpflückt, ohne dass die Eltern eingegriffen hätte. 


(c) Michel Abdullahi
Reaktionen auf Facebook, wie „Ein Schwamm? Das ist doch kein Zeichen gegen Rassismus! Was soll das? Das kann ich auch!“, von denen er in einem Radiointerview mit dem SWR berichtet, machen deutlich, worauf ich hinauswill. Erstens: Die vermeintliche Kunst ist so schlecht, dass man ihr gar nicht ansieht, dass sie ein Zeichen gegen Rassismus sein könnte. Zweites: Und das ist noch viel schlimmer. Die Kunst ist so schlecht, dass man gar nicht glaubt, dass es sich dabei überhaupt um Kunst handelt.
Jerry Saltz, der berühmte New Yorker Kunstkritiker, hat es etwas diplomatischer formuliert und schreibt – zwar nicht im Bezug auf dieses Kunstwerk, sondern über zeitgenössische aktivistische Kunst allgemein: "Der Kunst fehlt eine dritte Ebene. Abgesehen von Politik und Bild."
Und mit dritte Ebene meint er das, was eine Sache überhaupt erst zur Kunst macht. Das unsagbar Schöne, Ergreifende, Berührende oder im Gegenteil Erschütternde. Also das eigentlich Kunsthafte. 
Und weil „schlechte Kunst“, schlechte Kunst, die trotzdem die meiste Aufmerksamkeit bekommt, längst kein Einzelfall mehr ist, wird der Anteil des Publikums, für den es unangemessen ist, wenn  Kunst sich mit solchen großen Fragen, wie Flüchtlingskrise, Rassismus oder Umwelt beschäftigt, immer größer. Obwohl sie doch eigentlich für denjenigen, der Kunst macht, für den Kunst das Allergrößte ist, ganz selbstverständlich zur Kunst gehören und zum Nimbus, der wiederum die Kunst umgibt. 
Vielleicht gibt es auch nur deshalb so viel schlechte Kunst, weil der Künstler mit all diesen Fragen schlicht überfordert ist. Eine Überforderung, die besonders in unserem Zeitalter der Hyperinformiertheit und medialer Daueröffentlichkeit deutlich zu Tage tritt.
Diesem Widerspruch versuche ich hier auf den Grund zu gehen. Daher zunächst folgende Feststellung: Es gibt nichts Zusammengehöriges, das so ungleich ist, so uneinheitlich, so sehr voneinander abweicht, wie die Vorstellung von Kunst, der Kunstwelt und das Bild vom Künstler. Mit „uneinheitlich“ meine ich die unterschiedlich große Bedeutsamkeit, die sie besitzen. Deren unterschiedlich hohen Stellenwert. Alle drei, Kunst, Künstler und Kunstwelt, gehören eigentlich zusammen, nehmen aber jeweils einen anderen Rang ein.
Ganz oben steht die Kunst. Der Künstler macht Kunst. Künstler, Kunstwerke und das Kunstpublikum bilden gemeinsam die Kunstwelt.
Es ist bestimmt nicht falsch, wenn man festhält, dass die Kunstwelt viel Glanz einbüßen musste in Folge der Skandale um Achenbach, Beltracchi und Gurlitt, der Diskussion um unsere koloniale Vergangenheit, die das Humboldtforum ausgelöst hat und durch Preise für Kunst, die in schier unermessliche Höhen steigen, während gleichzeitig Künstler eine ebenso große Abgehobenheit demonstrieren. Ai Weiwei beispielsweiße, hält es für einen wertvollen Beitrag zur aktuellen Debatte, sich in der Pose eines toten, am Strand angespülten Flüchtlingskind ablichten zu lassen.
Es hat sich eingebürgert, zu sagen, der Künstler macht Kunst. Gemeint ist aber eigentlich, dass er Kunstwerke herstellt. Denn die Kunst ist nicht einfach das Ergebnis des Kunstschaffens, sondern ein Ideal, für das der Künstler lebt und das überhaupt erst Auslöser ist für den Drang, Kunst zu schaffen. Richtiger wäre allerdings, zu sagen „Kunstwerke herzustellen“. Auch wenn das weniger außergewöhnlich klingt und sich dementsprechend weniger nach Kunst anhört. Hieran zeigt sich, worauf ich hinauswill: Dass es einen Unterschied macht, der in der Rangordnung liegt, ob man von „Kunst“ oder „Kunstwerken“ spricht, dass „Kunst“ und „Kunstwerk“ nicht gleichbedeutend sind – auch wenn „Kunst schaffen“ und „Kunstwerke herstellen“ hier dasselbe meinen.
Nun gibt es drei Probleme, die am Verlust der Glaubwürdigkeit und am Bedeutungsverlust der Kunst schuld sind. Eines führt ja zum anderen.
Erstens dass nicht zwischen Kunst (Kunst als oberste Instanz, als höchstes Ideal, also dem Grund, überhaupt Kunstwerke zu machen) und Kunstwerken (als bloße Verdinglichung des Versuchs eines Künstlers, seinem hohen Ideal nachzugehen) unterschieden wird.
Zweitens dass die Aufmerksamkeit, wenn überhaupt unterschieden wird, zu sehr auf den Kunstwerken liegt, statt auf der Kunst. Also darauf, was eigentlich hinter einem Kunstwerk steckt und in punkto Bedeutung weit darüber steht.
Es kann vielleicht die Art oder Form der Auseinandersetzung, also das Kunstwerk, kritisiert werden. Zum Beispiel dass Kelley Walker Archivbilder von Protesten der Afroamerikaner in den 60ern auf Leinwände druckt und mit Schokolade und Zahnpasta beschmiert oder Ai Weiwei in der Prager Nationalgalerie ein 12 Meter langes Flüchtlingsboot von der Decke hängen lässt. Aber niemals die Anspruchshaltung des Künstlers, sich mit ebenjenen großen Fragen zu beschäftigen. Der Anspruch, der genauso zur Kunst gehört, wie die Unwissenheit, was wirklich Kunst ist, die deren hohen Rang überhaupt erst sichern. 
Der Werteverfall in der Kunstwelt und schlechte Kunstwerke begründen also nicht einen Bedeutungsverlust der Kunst.
Drittes Problem: Weil die ersten beiden Punkte nicht vermittelt werden, hält ein breites Publikum noch immer an Maßstäben oder Kriterien für gute beziehungsweiße schlechte Kunst fest, wie Ästhetik, Technik, Meisterhaftigkeit, die längst nicht mehr ausschlaggebend sind für zeitgenössische Kunst und ist enttäuscht, wenn Kunstwerke diesen Ansprüchen nicht genügen. 
Es besteht also folgendes Dilemma: Während die moralischen Ansprüche eines Künstlers an sich selbst und sein eigenes Werk immer größer werden, was mit unser aller Lebensumständen zusammenhängt, hängen für ein breites Publikum die Beurteilungskriterien für Kunst noch immer mehr mit Schönheit und Form zusammen als mit Moral.
Abgesehen vom Aufmerksam-Machen auf relevante gesellschaftspolitische Themen, gibt es also noch eine andere, viel größere Erwartung an Künstler. Nämlich die Erschaffung großer Kunst, die aus sich selbst heraus Kunst ist und nicht weil es sich um ein besonderes Lehrstück in Sachen Moral handelt. Deshalb zählen Ambitionen weniger als ein fertiges Kunstwerk. Und es dominiert noch immer die Vorstellung, dass große Kunst dann entsteht, wenn ein Künstler ganz intensiv mit sich selbst und seinem eigenen Werk beschäftigt ist, obwohl Isolation und Mit-Sich-Selbst-Beschäftigt-Sein im Widerspruch stehen zu den Anforderungen unserer Zeit und der Rolle des zeitgenössischen Künstlers als Influencer, Selbstunternehmer und Alleskönner.

Die Schuld liegt aber nicht beim Publikum, sondern den Akteuren der Kunstwelt, allen, die mit Kunst Geld verdienen und kein Interesse daran haben, dass die Bedeutung vom Verkaufsgegenstand hinüberwandert zum immateriellen Wert der Kunst.