Samstag, 14. Oktober 2017

KUNST und Heimat


Oft ist in den letzten Tagen wieder von Beuys die Rede. Wenn der Einzug der AfD in den Bundestag mit dem ebenso aufsehenerregenden und kontrovers diskutierten Einzug der Grünen 1983 verglichen wird. Was viele nämlich gar nicht wissen und andere mit Sicherheit schon wieder fast vergessen haben: Beuys war aktiver Grüner, beim Gründungsparteitag in Karlsruhe mit dabei, 1979 deren Direktkandidat fürs Europaparlament und trotz einiger interner Querelen und Überwerfungen bis zu seinem Tod Parteimitglied. Er beackerte mit seiner Kunst eine undefinierbare Vorstellung davon, was Heimat sein könnte. Heimat jenseits von Patriotismus und trotzdem spezifisch deutsch.
„Beackert“ ist das richtige Wort. Zwar hat auch seine Kunst mit der Verarbeitung von Kriegserlebnissen zu tun. Nur hat bei ihm Heimat weniger als bei Lüpertz, Baselitz, Richter, Kiefer und Co. etwas mit Schuld zu tun, sondern mehr mit Natur und Umwelt. Es geht bei ihm zwar um Spiritualismus und Esoterik, aber ebenso stark auch um ganz konkrete Orte, Materialien (Filz und Fett natürlich) und Figuren (der Feldhase zum Beispiel), die alle etwas eigentümlich Deutsches haben und auch von nachfolgenden Generationen noch, unabhängig davon, was sie im Geschichtsunterricht lernen, mit Heimat verbunden werden. Man könnte sagen, dass er deshalb ein so großer Künstler war, weil er es verstand, dieses große Gefühl „Heimat“ mit der großen Sache „Kunst“ zu verbinden.
Auch unsere Volksvertreter haben gerade das Thema Heimat wiederentdeckt. Quer durch alle Parteien. In der Union werden Stimmen laut, die – wie schon in NRW und Bayern – die Einrichtung eines Heimatministeriums für den Bund fordern. Als „gute Antwort auf die Sorgen der Bürger in Ost und West, die sich abgehängt fühlen“, so Mike Mohring, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Thüringen, gegenüber der B.Z. Grünen-Spitzenkandidatin Göring-Eckardt verkündete auf dem kleinen Parteitag nach der Wahl: „Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht. Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Auch in Steinmeiers Rede zum Tag der deutschen Einheit: Heimat, Heimat, Heimat. „Verstehen und Verstanden-Werden – das ist Heimat“, „Wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern“, „Je schneller die Welt sich um uns dreht, desto größer wird die Sehnsucht nach Heimat“, „Heimat weist in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit“ und schließlich „Heimat ist der Ort, an dem das Wir Bedeutung bekommt“. Sogar Linken-Politiker wünschen sich, dass unsere „Heimat“ endlich wieder positiv besetzt ist, unbelastet von jedweder fremdenfeindlichen Gesinnung. So wie das „Mia san mia“ des FC Bayern. 
„Der ostdeutsche Teil der Partei „Die Linke“, die vormalige PDS, beruht zu einem wesentlichen Teil auf dem der Ostdeutschen, der sich auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht in der Bundesrepublik aufgenommen, also heimisch fühlt“, erklärten zwei Linken-Politiker in einem Gastbeitrag in der WELT. Und Heimat sollte die große Klammer werden für das vielversprechende Jamaika-Bündnis. Ein Leitgedanke, Leitbild, auf das sich alle einigen können. „Klima- und Naturschutz sowie Gesellschaftspolitik für die Grünen, Wirtschaftskraft, Digitalisierung und Bildung für die FDP, Vaterlandsliebe und Sicherheit für die Union“, so der Spiegel.
Nur haben sie das Thema, für das sie eigentlich gewählt wurden, weil es uns Menschen gerade jetzt am meisten bewegt, erst zu spät und dann nicht beherzt genug aufgegriffen und verlieren sich bei Fragen, die die Angst der Menschen vor Entfremdung im eigenen Land, vor Verlust der Heimat, vorm Unbekannten anzeigen, in internen Streitereien und Machtkämpfen (Obergrenze, Leitkultur, Burkaverbot), während  sie bei Themen, die von AfD-Leuten abfällig als „Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.) abgetan werden, ziemlich schnell parteiübergreifend Einigungen erzielen und viele damit überfordern. 
Es gibt bei einem Großteil der Bevölkerung keine Vorbehalte mehr gegenüber Homosexuellen und keinerlei Bedenken mehr, dass auch gleichgeschlechtliche Paare eine Ehe schließen dürfen. Deshalb ist es richtig, dass die Politik diesen Gesellschaftswandel wahrnimmt und in Gesetzesform gießt. Nur müssen dann ebenso die Sorgen der Menschen auf der anderen Seite wahrgenommen werden – statt nur der fortschrittliche Wandel.
Michael Sauga hat dem Ganzen im Spiegel einen Leitartikel gewidmet: „Abseits der Metropolen wachse der Verdruss über eine Politik, die sich auf Einwanderung und Homo-Ehe konzentriere und so eines der zentralen Versprechen des Liberalismus breche: „Gleicher Respekt und gleiche Sorge für jedes Mitglied der Gesellschaft“, auch für frühere Stammwähler.“ 
Es geht also um Entscheidungen oder die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden (bei den meisten gefühlsmäßig über deren Köpfe hinweg), die Bürger und die Politik voneinander entfernen – genauso wie von der Kunst – und zur AfD treiben. Beziehungsweise weg von der Kunst. Von der meinungsbestimmenden Elite in der Kunst fühlen sich diejenigen, die unter sozialer Unsicherheit und kultureller Verunsicherung leiden, genauso isoliert, genauso ausgegrenzt und übergangen, wie von der politischen Klasse.
Konnten deshalb so viele Leute mit der Kunst auf der Documenta nichts anfangen, weil sie schlicht zu international war? Deshalb an der Lebenswirklichkeit der meisten Leute einfach vorbeiging? Brauchen wir mehr Nationalismus und Isolationismus in der Kunst? Sind Nationalismus und Isolationismus ein Gegenmittel damit die Überforderung endet? Und ist die Kunst damit nicht ein Spiegel für das, was gerade in Europa, ja auf der ganzen Welt passiert? Ist damit nicht der Beweis erbracht, dass es sich bei Kunst wirklich um den Spiegel der echten Welt handelt, wie es immer heißt?
Was Steinmeier in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit anmahnt, gilt auch für die Kunst: „Wenn einer sagt: Ich fühle mich fremd im eigenen Land. Dann sollte niemand antworten: Tja, die Zeiten haben sich halt geändert. Wenn einer sagt: Ich verstehe mein Land nicht mehr. Dann gibt es etwas zu tun in Deutschland.“
Zeitgenössische Kunst sollte ein Spiegel für die Gesellschaft sein. Aber so weit links, so feministisch, so queer, so antikapitalistisch, so eindeutig multikulti sind wir doch gar nicht alle. 
Die Karlsruher Verfassungsrichter haben das dritte Geschlecht beschlossen und die AfD twittert: „In 100 Jahren wird die Menschheit auf diese Epoche zurückschauen und feststellen, dass #Gendergaga die bekloppteste Idee aller Zeiten war.“ Steckt darin nicht die Frage „Was wird in 100 Jahren noch Kunst sein?“ Die man stellen muss, wo doch heute Moral das oberste Beurteilungskriterium für Kunst ist und Kunst bei vielen unserer Mitmenschen, statt sie wirklich zu berühren für Überforderung sorgt, die wiederum den Aufstieg der AfD begünstigt, wenn man es auf Politik überträgt.
Das soll kein Boykottaufruf gegen gewisse Themen sein, die gerade Hochkonjunktur haben. Im Gegenteil, es ist wichtig, dass die Gesellschaft sich wandelt und Veränderungen in Gesetzesform gegossen werden. Aber ein Anlass festzustellen, dass es gar nicht so sehr um die Auswahl der Themen geht, sondern viel stärker um die Kraft, mit der man Dinge in der Kunst angeht. Die Kraft, für die die Kunst steht. 
In der Kunst ist jeder frei. Und das klingt natürlich auch immer gut. Frei aber nicht in der Herangehensweise – wenn am Ende Kunst rauskommen soll und nicht bloß Fingerzeig auf irgendetwas. Denn es ist leichter, sich hinter dem Einsatz für andere zu verstecken, als sich selbst für die Kunst zu verausgaben.
Beuys war auch im permanenten Einsatz für Benachteiligte. Er hat alle abgelehnten Bewerber der Düsseldorfer Akademie in seine Klasse aufgenommen. Aber er hat gleichzeitig nicht die Kunst vernachlässigt.

Themen, wie die Gender-Debatte, Feminismus, Kolonialismus und Kapitalismuskritik dürfen genauso auf keinen Fall vernachlässigt werden, aber es sollte darüber hinaus endlich wieder andere Dingen geben, für die zeitgenössische Kunst steht. Damit wieder mehr Menschen von Kunst berührt werden. Dann lässt sich auch wieder besser über Kunst streiten. So wie gerade über Heimat.  Und vielleicht kommen Heimat und Kunst dann irgendwann nicht mehr vermeintlich öffentlichen Bekundungen der eigenen politischen Einstellung gleich. Ob man rechts oder links ist.