Mittwoch, 21. Juni 2017

KUNST und Sich-Radikalisieren


JUGENDSCHUTZ.NET

Als Künstler kann ich verstehen, dass man sich radikalisiert. Das heißt, ich kann Terroristen in gewisser Hinsicht verstehen. Deren Fanatismus. Irgendwann im Laufe seines Lebens beginnt jeder ernstzunehmende Künstler-Anwärter damit, sich zu radikalisieren.  
Auch ich habe mich radikalisiert. Auch ich bin irgendwann zu der Ansicht gelangt, dass meine Handlungsweise extremer werden muss, dass ich extremer werden muss, um meine Ziele zu erreichen. Auch ich bin ein junger Mensch auf der Suche nach Halt, Identität und Orientierung. Auch mit Komplexen. Also anfällig dafür, mich zu radikalisieren.
Kunst war für mich schon immer ganz wichtig für meine  Persönlichkeitsbildung. Ein wesentlicher Faktor, um mich zu einer starken, unabhängigen und eigenständigen Person zu entwickeln. Früher war es für mich sogar noch wichtiger als heute, dass  andere merken, dass ich etwas mit Kunst zu tun habe und dass  meine Berechtigung für diese Zugehörigkeit zur Kunst das ist, was mich von anderen unterscheidet, was mich einzigartig macht. Dass Kunst mich einzigartig macht.
Der Grund, wieso ich mich radikalisiert habe, ist auch das Thema meiner YouTube-Videos und ein Alleinstellungsmerkmal der Kunst: Niemand weiß, was Kunst ist.
Ich bin also in doppelter Hinsicht verunsichert: Einmal, weil ich wie alle in meinem Alter nicht weiß, wie meine Zukunft aussieht und zusätzlich noch, weil ich nie wissen werde, was Kunst ist. Kunst ist es dann, wenn man über sich selbst hinauswächst,  
von sich selbst überrascht wird. Deshalb kann man als Künstler in der Kunst nie Gewissheit, nie Sicherheit erlangen, nie einen Fortschritt erreichen. Um trotzdem Kunst machen zu können, muss man sich andere Methoden, andere Wege suchen, die außerhalb des Feldes Kunst liegen. Maßstäbe in anderen Bereichen festlegen, um Zufriedenheit erreichen zu können (wenn man diese Maßstäbe erfüllt), die man dann auf das eigene Kunstschaffen projizieren kann.
Es geht bei Kunst also zuallererst nicht ums Kunst-Machen, sondern darum, eine Methode zu finden. Deshalb ist Kunst auch nicht das Kunstwerk, sondern ein Lifestyle. Und eine dieser Methoden kann sein, sich zu radikalisieren.
Was bedeutet Radikalisierung in der Kunst und für den Künstler und woher kommt sie?
Mit der eigenen Radikalisierung reagiert man bloß auf das  permanente Gefühl, nicht zu wissen, was Kunst ist. Kunst machen bedeutet übersetzt zwei Dinge:
Erstens seine Träume zu verwirklichen. Träume aber nicht im Sinne von Zielen, das heißt Dinge, die man im Leben versucht zu erreichen. Also nichts Zukunftsgewandtes. Sondern Träume, wie die Dinge, die man sich als Kind immer vorgestellt hat. Und diese versuchen zu realisieren – und zwar jeden Tag. Nur leider ist das, was man in echt schafft umzusetzen, nie so gut, wie das, was man sich vorgestellt hat. Kunst ist nie so gut, wie das, was man am Anfang im Kopf hatte. Deshalb sucht man sich Methoden außerhalb der Kunst, um das Gefühl zu bekommen, Kunst machen zu können, und ein Erfolgsgefühl (oder zumindest Befriedigung) zu erhalten, das man dann aufs Kunstmachen projizieren kann.
Zweitens: Kunst bedeutet, sich selbst erfinden. Kunst kann man nicht beherrschen, nie wirklich können, sondern man kann immer nur hoffen, immer nur versuchen Kunst zu machen.
Das hat natürlich auch Folgen auf das eigene Leben. Wenn man nie wirklich kann, sondern immer nur versucht, immer nur darauf wartet endlich zu können, führt man automatisch ein bedachteres, gemäßigteres, bescheideneres, demütigeres Leben. Selbst erfinden bedeutet dann: Man kann nie einfach ausleben, wer man wirklich ist, nie einfach man selbst sein, denn das würde Sich-Gehen-Lassen bedeuten.
Weil Kunst aber das Allergrößte für einen ist, nicht einfach nur irgendetwas, sondern das Allergrößte, Allerschönste, Allertollste, kann aber Zurückhaltung und Mäßigung, auch wenn diese angesichts des Nicht-Wissen angebracht wären, nie der Weg sein, auf dem man Kunst erreichen kann. Stattdessen entscheidet man sich dafür, sich zu radikalisieren. An die Stelle von Zurückhaltung und Mäßigung tritt das Gefühl, es sich möglichst schwer, möglichst unbequem gemacht zu haben. Das Gefühl, besser habe ich es nicht hinbekommen, das Gefühl, alles gegeben zu haben, wird ein entscheidender Faktor für Kunst.
Ich kann nicht verstehen, wie man andere Menschen umbringen kann. Aber ich kann verstehen, dass man andere hasst. Auch ich empfinde Hass auf jeden, der meine Kunstwelt zum Zusammenbrechen bringt. Kunst bedeutet nämlich, dass man sich selbst eine eigene Welt schafft. Doch je mehr man sich radikalisiert, desto schwerer fällt es, diese eigene Welt aufrechtzuerhalten, desto schwerer wird es, weiter in dieser eigenen Welt zu leben, diese eigene Welt gegen das Außen zu beschützen, nicht von anderen aus dieser eigenen Welt hinausgeworfen zu werden. Das können Menschen sein, die einem nahe stehen, Familie und Freunde, aber auch eigene Erinnerungen. Erinnerungen daran, wie man früher war, wie wenig radikal.
Isolation begünstigt große Kunst. Man sagt, dass große Kunst am ehesten dann entsteht, wenn ein Künstler sich ganz intensiv ausschließlich mit sich selbst und seinem eigenen Werk beschäftigt. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. Isolation und Einsamkeit sind aber auch Beweggründe dafür, dass junge Menschen sich radikalisieren. Sind große Künstler potentielle „Einsamer Wolf“-Attentäter? Und wenn große Kunst am ehesten dann entsteht, wenn ein Künstler ganz intensiv ausschließlich mit sich selbst und seinem eigenen Schaffen beschäftigt, gibt es dann überhaupt engagierte, aktivistische Kunst?
Zurück zu dem, was ich am Anfang beschrieben habe: Niemand weiß, was Kunst ist, deshalb ist die wahre Kunst für mich auch nicht das Zufallsprodukt, das am Ende dabei herauskommt, das ohnehin nie so gut ist, wie das, was man sich vorgestellt hat, sondern der Weg zur Kunst, der künstlerische Ansatz, der einem alles abverlangt, der einen an die eigenen Grenzen gehen lässt,
der einen zwingt, alles rauszuholen. Die Leistungsformel,

die Selbstoptimierungsformel Kunst. Auch wenn das bedeutet, sich zu radikalisieren.